10.6094/UNIFR/13534
Angerer, Verena
0000-0002-3081-4609
Neue psychoaktive Substanzen in der forensischen Toxikologie : synthetische Cannabinoide – eine unendliche Geschichte?
Albert-Ludwigs-Universität Freiburg
2017
615
Universitätsklinikum Freiburg
Medical Center - University of Freiburg
Institut für Rechtsmedizin
Institute of Forensic Medicine
Fakultät für Chemie und Pharmazie
Pharmazeutische Wissenschaften
Institut für Pharmazeutische Wissenschaften
ger
10.6094/UNIFR/13534
Seit die synthetischen Cannabinoide JWH-018 und CP-47,497-C8-Homolog im Dezember 2008 als psychoaktive Komponenten von Räuchermischungen identifiziert wurden, sind mehr als 170 verschiedene synthetische Cannabinoide an die Europäischen Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (EMCDDA) gemeldet und in die europäische Datenbank für neue Drogen (EDND) aufgenommen worden. Unter Berücksichtigung aller anderer Substanzgruppen der neuen psychoaktiven Substanzen (NPS), wie Designer-Stimulanzien (z.B. Cathinon- oder Amphetaminderivate), Designer-Benzodiazepine oder Designer-Opioide, sind zwischen 2009 und 2015 insgesamt über 530 neue Substanzen in Europa identifiziert worden. Um dieser Flut an NPS zu begegnen wurden weltweit verschiedenste rechtliche Kontrollmaßnahmen ergriffen. In Deutschland steht zur rechtlichen Kontrolle der NPS das Betäubungsmittelgesetz (BtMG) zur Verfügung, das durch Änderungsverordnungen um einzelne Substanzen erweitert werden kann. Voraussetzung für die Aufnahme eines neuen Stoffs in die Anlagen des BtMG ist neben einer größeren Verbreitung das Vorliegen eines erheblichen Gefahrenpotentials, das sich z.B. durch Auftreten schwerer Vergiftungen oder von Todesfällen manifestieren kann. Da hierfür zunächst Belege gesammelt werden müssen und oft ein erheblicher Zeitverzug eintritt, wird der Prozess des Verbietens häufig mit einem „Katz- und Maus-Spiel“ verglichen, dem das Auftreten neuer Stoffe folgt. Aus diesem Grund wurde im November 2016 ein neues Gesetz verabschiedet, das sogenannte „Neue-psychoaktive-Stoffe-Gesetz“ (NpSG). In diesem Gesetz werden erstmals Stoffgruppen definiert: die von „2-Phenethylamin abgeleitete[n] Verbindungen“ und die „Cannabimimetika/synthetische[n] Cannabinoide“. Ziel des Gesetzes ist es, den seit Jahren fortschreitenden Kreislauf, der Einführung neuerer, immer gefährlicherer Substanzen, zu unterbrechen.
Der erste Teil der vorliegenden Arbeit beschäftigt sich mit der Identifizierung neuer psychoaktiver Substanzen in sogenannten Legal-High Produkten (Räuchermischungen, Badesalze, E-Liquids, Research Chemicals), die im Rahmen eines systematischen Online-Monitorings über das Internet erworben wurden. Ziel war es, neue Substanzen möglichst zeitnah zu identifizieren, um die Methoden zum Nachweis von NPS in Serum- und Urinproben so aktuell wie möglich halten zu können. Außerdem war es durch das Online Monitoring möglich, die Entwicklung des Legal-High-Marktes und vor allem Reaktionen auf Gesetzesänderungen nachzuvollziehen. Im Zeitraum von 2013 bis 2016 wurden insgesamt über 1000 verschiedene Produkte untersucht, in denen mehr als 150 verschiedene Substanzen nachgewiesen wurden.
Im zweiten Teil der Arbeit wird eine dynamische Methode zum Nachweis synthetischer Cannabinoide in humanen Serumproben beschrieben, die kontinuierlich aktualisiert und nach forensisch-toxikologischen Richtlinien validiert wurde. Im Zeitraum zwischen 2013 und 2016 wurden im Rahmen der forensisch-toxikologischen Fallarbeit über 3600 Serumproben untersucht, so dass mit diesen Daten die Entwicklung des Käuferverhaltens am Legal-High-Markt beobachtet werden konnte.
Der dritte Teil der Arbeit befasst sich mit der Analyse biologischer Proben und der toxikologischen Bewertung von 137 klinischen Notfällen, die im Zusammenhang mit dem Konsum neuer psychoaktiver Substanzen aufgetreten sind und im Institut für Rechtsmedizin Freiburg bearbeitet wurden. Dabei wurden Intoxikationsfälle im Zusammenhang mit vier der am weitesten verbreiteten Substanzen (5F-PB-22, AB-CHMINACA, MDMB-CHMICA und 5F-MDMB-PINACA), die alle aus der Gruppe der synthetischen Cannabinoide stammen, näher diskutiert.
Der vierte und letzte Teil der Arbeit beschäftigt sich mit der Begutachtung von Todesfällen, die im Zusammenhang mit dem Konsum synthetischer Cannabinoide standen. Es wurde postmortal genommenes Probenmaterial von 160 Todesfällen quantitativ auf synthetische Cannabinoide untersucht. In 46 % der Fälle konnten dabei ein oder mehrere synthetische Cannabinoide nachgewiesen werden. Wie bei den Intoxikationsfällen wurden die Todesfälle, die im Zusammenhang mit den oben genannten vier Substanzen standen, einer näheren Betrachtung unterzogen.
Bei der quantitativen Untersuchung synthetischer Cannabinoide in humanen Serumproben aus Intoxikations- bzw. Todesfällen konnte keine eindeutige Korrelation zwischen der Schwere der Symptome und den nachgewiesenen Konzentrationen festgestellt werden. Gewöhnungseffekte nach chronischem Konsum synthetischer Cannabinoide können zu teilweise extremen Serumkonzentrationen führen, ohne dass deutliche Intoxikationszeichen auftreten. Dagegen kann es bei Cannabinoid-naiven Personen bereits bei sehr geringen Serumkonzentrationen zu schweren Intoxikationssymptomen kommen. Nichtsdestotrotz ist eine zumindest semiquantitative Bestimmung neuer psychoaktiver Substanzen in humanen Serumproben sinnvoll, um einerseits Daten zur Pharmakokinetik von NPS zu erhalten und andererseits unter Einbeziehung weiterer Informationen zu Konsummuster und ggf. individuellen Metabolismusbesonderheiten eine forensisch-toxikologische Bewertung zu ermöglichen.