10.6094/UNIFR/12407
Fahrenberg, Jochen
Leibniz‘ Einfluss auf Wundts Psychologie, Philosophie und Ethik.
Albert-Ludwigs-Universität Freiburg
2016
Institut für Psychologie
Wirtschafts- und Verhaltenswissenschaftliche Fakultät
ger
10.6094/UNIFR/12407
Der grundlegende Einfluss von Leibniz auf Wundt ist bisher nicht systematisch untersucht worden. Wundt hatte 1874 im Vorwort seiner Grundzüge der physiologischen Psychologie Kant und Herbart als die wichtigsten Philosophen für die Ausbildung seiner eigenen Ansichten bezeichnet. Wer diesen Hinweisen nachgeht, wird feststellen, dass Wundt sich kritisch mit beiden Denkern auseinandersetzt und sich insbesondere von Herbarts Psychologie distanziert. Demgegenüber hat Leibniz den weitaus größeren und konstruktiven Einfluss auf Wundts Psychologie, Philosophie, Erkenntnistheorie und Ethik. Dieser Zusammenhang ist aus Wundts Leibniz-Schrift (1917) und aus seinen zentralen Begriffen und Prinzipien zu entnehmen. Leibniz prägte offensichtlich auch Wundts perspektivisches Denken.
Die für Wundt wichtigsten Themen sind hier ausführlich dargestellt, wobei die ideengeschichtlichen Zusammenhänge „von Wundt her“ gesehen sind. Andernfalls könnten Leibniz‘ Monadologie und die theologischen Letztbegründungen seiner Philosophie zu sehr dominieren. Wundt hat einige Leitgedanken „säkularisiert“ und wichtige philosophische Positionen von Leibniz diesseits von Gottesglauben und Glauben an eine unsterbliche Seele formuliert.
Einleitend werden vier Grundannahmen von Leibniz hervorgehoben: Kontinuitätsgesetz, Harmonieprinzip, Individualität und Eigenaktivität. Die folgende Untersuchung gliedert sich in zehn Themen: (1) Monade und Seelenprinzip, Aktualität des Seelischen; (2) Erkenntnistheorie; (3) Parallelismus; (4) Perzeption und Apperzeption; (5) Bewusstsein und Selbst-Bewusstsein; (6) Willenstätigkeit (Streben, Appetitus); (7) Prinzipienlehre; (8) Entwicklungstheorie; (9) Ethik und (10) Monismus. Zu jedem Thema gehören Leibniz-Zitate; Begriffsbestimmungen aus dem Historischen Wörterbuch der Philosophie (Ritter et al., 1971 ff) und anderen Quellen; Wundts direkte Aussagen über Leibniz; Wundt-Zitate zum Thema; Verbindung mit der Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie; Konsequenzen für die Forschung und Methodenlehre; Wundt-Rezeption und Kritik.
Wundt bezieht sich, wie bereits seine Themen und die Register zeigen, auf eine weite Spanne von philosophischen Ideen aus der griechischen Philosophie und aus der Neuzeit. Englische und französische Philosophen und Naturwissenschaftler werden von Wundt gelegentlich erwähnt. Im Vergleich zu den englischen Empiristen und den französischen Denkern ragt hier Darwin heraus. In angloamerikanischen Schilderungen in ihrer oft eingeengten Rezeption von Wundts philosophischen und erkenntnistheoretischen Positionen werden eher andere Akzente gesetzt, Locke, Berkeley, Hume, Spencer und andere Namen genannt, doch scheinen deren Einflüsse eher marginal zu sein im Vergleich zu Leibniz und Kant.
Die Recherchen ergeben, dass Leibniz‘ philosophische Psychologie in neueren Büchern über Leibniz nicht vorkommt; diese Themen und die Bezüge zur Psychologie werden ausgeklammert. In heutigen Darstellungen der Geschichte der Psychologie wird Leibniz zwar gelegentlich erwähnt, jedoch nicht adäquat dargestellt und kommentiert. Die grundlegenden Einflüsse auf Wundts Werk sind weitgehend oder völlig übersehen. – Wundts Psychologie ist ideengeschichtlich ohne den Einfluss von Leibniz kaum zu verstehen. Wundt erhielt wesentliche Anregungen und setzte diese auf originelle Weise in die Prinzipien und die Methodologie der empirischen Psychologie um: Aktualitätsprinzip, psychophysischer Parallelismus, Kombination von Kausalprinzip und teleologischer Analyse der psychischen Kausalität, Apperzeptionstheorie, Willenspsychologie und voluntaristische Tendenz, Prinzipienlehre und Perspektivität des Denkens.
Wundts Apperzeptionstheorie bietet ein vorzügliches Beispiel, wie die Auffassungen eines bedeutenden Philosophen, d.h. Leibniz‘ Gedanken über Perzeption und Apperzeption, über Bewusstsein und Synthese, über psychophysischen Parallelismus und Perspektivität des Denkens, von einem Psychologen und Neurophysiologen in empirisch psychologische Begriffe umgeformt und teilweise auch experimentalpsychologisch operationalisiert werden – auf dem Wege zum Verständnis der höchsten integrativen Bewusstseinsleistungen und der willentlichen Verhaltenssteuerung. Wundt entwickelt mit seiner Apperzeptionstheorie die wichtigste Leitidee seines gesamten Werks. Apperzeption bedeutet zunächst, dass im Vergleich zu den elementaren und passiven Assoziationsvorgängen aktive und selektive Prozesse stattfinden, beispielsweise die willentliche Aufmerksamkeitssteuerung. Wundt entwickelt ein theoretisch und methodologisch anspruchsvolles Annahmengefüge.
Die Beziehungen zwischen Wundt und Leibniz oder Kant zu untersuchen, führt unausweichlich zu der allgemeinen Frage nach der Verbindung von Psychologie und Philosophie. – Bestätigt die heute institutionell und curricular vollzogene Trennung beider Fächer Wundts Befürchtung, dass gerade die Psychologie von den negativen Folgen am meisten betroffen ist?
Diese Überlegungen, die von dem fundamentalen Einfluss Leibniz‘ auf Wundt, also den wichtigsten Gründer der modernen Psychologie, beeindruckt sind, geben Argumente für einen erneuten Diskurs zu dieser Grundfrage: Welche philosophischen Voraussetzungen sind in den Hauptrichtungen und Theorien der heutigen Psychologie zu erkennen und welche Konsequenzen sind aus dieser Reflexion zu ziehen? – Die vorliegende ideengeschichtliche Untersuchung schließt an die vorausgegangenen Bücher an: Menschenbilder (Psychologische Anthropologie, 2008), Wilhelm Wundt – Pionier der Psychologie und Außenseiter? (2011), Zur Kategorienlehre der Psychologie (2013a), Theoretische Psychologie (2015a).
Die Kontroversen über ontologische Postulate und epistemologische Überzeugungen sind ja keineswegs gelöst, sondern sind nur beiseitegeschoben. Die individuellen Auffassungen werden jedoch viele Entscheidungen beeinflussen: von der Auswahl der Forschungsthemen und der Praxisfelder, von der als „adäquat“ behaupteten Methodik bis zu den Menschenbildern und deren Konsequenzen – zumindest auf einigen Gebieten. Doch diese philosophischen Voraussetzungen, die ontologischen, erkenntnistheoretischen und anthropologischen Positionen, bilden heute oft nur einen privaten Hintergrund und sind nur selten ein Thema des Studiums, der Wissenschaftsforschung innerhalb der Psychologie, der empirischen Einstellungsforschung oder der Evaluation von Projekten und Praxisfeldern.