10.20379/DBAUD-0558
Günter Grass Stiftung - Medienarchiv
Günter Grass und seine Übersetzer: Art und Weise - Funkhaus Europa (Spezial)
Günter Grass und seine Übersetzer
Günter Grass Stiftung Bremen - Medienarchiv
2016
Günter Grass Stiftung Bremen - Medienarchiv
Kochen
Übersetzertreffen
Übersetzung
Übersetzer
Nobelpreis
O-Ton Grass: er sei immer ein "lebenslustiger Pessimist" gewesen; seit der "Blechtrommel" komme seine Art einer verzweifelten Komik zum Tragen.
Der glückliche Sisyphos Grass galt als ewiger Kandidat für den Nobelpreis und hat ihn jetzt zugesprochen bekommen. Die Dokumentation stellt den Schriftsteller, aber auch seine Übersetzer vor.
Nach Bekanntgabe des Nobelpreises für Grass wurde die Sitzung des Danziger Stadtrates unterbrochen zugunsten einer kleinen Feier; im kommunistischen Polen hatten die Werke von Grass als "umstürzlerisch" gegalten und waren verboten gewesen; jetzt freuen sich die Polen mit Grass.
Sławomir Błau (polnischer Grass-Übersetzer) zum Nobelpreis für Günter Grass: hat seit langem auf den Preis gehofft.
Sławomir Błau ist der einzige noch lebende Übersetzer von Grass, der schon "Die Blechtrommel" übersetzt hat; zum ersten Mal getroffen hat er ihn 1970, als Grass Willy Brandt nach Warschau zur Unterzeichnung der Ost-Verträge begleitet hat; erst 1977 bei einem Übersetzerseminar in Göttingen hat er Grass wiedergetroffen.
Sławomir Błau: Kurz nach Erscheinen von "Der Butt" sei Grass durch Deutschland gereist; er selbst habe sich damals nicht getraut, sich ein Buch signieren zu lassen, weil er beschämt gewesen sei, dass Grass' Bücher nicht in Polen erscheinen konnten.
Anfang der 70er Jahre war die Übersetzung der "Blechtrommel" fast fertig gewesen, kurz vor dem geplanten Erscheinungstermin ist die Veröffentlichung aber verhindert worden.
Sławomir Błau: bei der Fahnenkorrektur sei die Veröffentlichung gestoppt worden, darüber sei er sehr verbittert gewesen.
Ende der 70er Jahre erschein "Die Blechtrommel" dann im Untergrund anonym und ohne den Namen des Übersetzers Sławomir Błau;
an den Übersetzertreffen mit Grass seit 1977 könnte Sławomir Błau nur selten teilnehmen, weil er keine Reisegenehmigung bekommen hatte; bei den Übersetzungen zur "Die Rättin" und "Hundejahre" war er dann beteiligt.
Sławomir Błau: Grass sei ein offener, freundlicher und sehr geduldiger Mensch, der sich nicht von den Fragen der Übersetzer belästigt fühle; es liege ihm viel daran, dass seine Gedanken und sein Stil präzise widergegeben würden; als Übersetzer müsse er selbst sich immer wieder an das Buch anpassen; "Die Blechtrommel" würde in Polen viel gelesen und sei in Buchhandlungen sehr gefragt.
Grass wird in Polen sehr verehrt, er wird als Danziger gesehen; "Mein Jahrhundert" empfindet Sławomir Błau als das deutscheste Buch von allen.
Ute Grass, die zweite Frau von Günter Grass, gilt als schärfste Kritikerin des Schriftstellers; sie ist die erste, die die Werke hört und liest, dann der Verlag, dann die Übersetzer; "Mein Jahrhundert" wird schnell in so viele Sprachen übersetzt werden wie nie zuvor.
Grass: würde es begrüßen, wenn auch andere Autoren sich an einer "Bibliothek dieses Jahrhunderts" beteiligen würden.
"Mein Jahrhundert" umfasst hundert Geschichten, die von hundert Erzählern erzählt werden; schon vor Abschluss des Buches waren die Lizenzen für 20 Übersetzungen vergeben;
Grass: die Deutschen hätten auf verhängnisvolle Weise die erste Hälfte des Jahrhunderts bestimmt; die zweite Hälfte sei eine Reaktion darauf, man habe immer noch mit den Folgen zu kämpfen.
Im Frühjahr hat Grass seine Übersetzer eine Woche lang getroffen und Probleme der Übersetzung geklärt.
Grass: Hat bei "Der Butt" erstmalig seine Übersetzer getroffen und dies bis zum neusten Buch beibehalten; es sei sehr anstrengend für ihn, mit 16 bis 20 Übersetzern zusammenzusitzen und das Buch Zeile für Zeile durchzugehen; die Übersetzer seien die genauesten Leser, aber es sei dennoch ein Vergnügen; er arbeite viel mit Umgangssprache, Dialekten und deutschen Sprichwörtern; Sprichwörter könne man nicht linear in eine andere Sprache übersetzen, die Übersetzer müssten dies in ihren Sprachbereich übertragen; jeder Leser lese etwas anderes und dürfe auch etwas anderes lesen; wenn das Buch an die Leser weitergegeben werde, beginne die "Enteignung" des Autors, das Buch mache sich selbstständig, jeder Leser lese etwas anderes; dies sei manchmal schmerzhaft; bei epischen Werken seien es vier bis fünf Jahre einsame Arbeit, dann gehöre das Buch auf einmal Vielen; Übersetzer seien sehr bescheiden und nachdenklich, manchmal fühle er sich durch ihre Bescheidenheit provoziert; die Übersetzertreffen seien nie verlorene Tage.
Grass hat aus "Mein Jahrhundert" inzwischen in den Niederlanden gelesen; er trifft dort auf Menschen, die das Buch als deutsches Geschichtsbuch verstehen;
Grass: die Stoffmasse sei sein Anreiz gewesen, in einer neuen Form der Kurzgeschichte, in der Art von Kalendergeschichten, zu schreiben; es empöre ihn, wenn ein Buch in Misskredit gerate, aus dem man etwas lernen könne; dies widerspreche dem Gedanken der Aufklärung; die Vermittlung von Wissen und Erinnerung führe im Feuilleton offenbar zum Naserümpfen; es sei Aufgabe der Literatur, nachzufragen und den Finger in die Wunde zu legen:
In "Mein Jahrhundert" widmet Grass mit der Behandlung des spanichen Bürgerkrieges diesem Land ausdrücklich ein Kapitel; der spanische Übersetzer Miguel Saez ist von Hause aus Jurist, hat aber als Übersetzer zunächst für die Vereinten Nationen, dann im Dienst von Schriftstellern und Verlagen gearbeitet
Saez: In Spanien gebe es schon immer einen Mangel an Lektoren; seine erste Übersetzung sei ein Buch von Peter Handtke gewesen, die zweite dann "Der Butt" von Günter Grass; nach der Übersetzung von "Der Butt" habe er dann richtig Deutsch gekonnt
Saez hat zweieinhalb Jahre an der Übersetzung von "Der Butt" gearbeitet und dabei auch Grass persönlich in Madrid kennengelernt
Saez: erinnert sich an ein Treffen deutscher und spanischer Schriftsteller; Grass habe dabei vom Engagement der Schriftsteller gesprochen; an Grass sei vor allem seine Direktheit interessant, er sage immer, was er für richtig und gerecht halte; Grass spiele auf seine ganz eigene Weise mit der deutschen Sprache, fordere aber nicht, dass sie linear übersetzt würden; vielmehr rege er die Übersetzer an, die Sprachspiele in ihre eigene Sprache zu übertragen; dies sei bei "Mein Jahrhundert" sehr notwendig, es sei ein sehr deutsches Buch; dies sei die größte Schwierigkeit für den Übersetzer; das Interessante an einer Übersetzung sei, dass man seine Sprache an jemanden ausleihe, der eine ganz andere Mentalität habe
Saez hat "Mein Jahrhundert" innerhalb von fünf Monaten übersetzen müssen; Grass war gerade der spanische Prinz-von-Asturien-Preis zugesprochen worden; der spanische Verleger hat das Buch vor der Preisverleihung auf den Markt gebracht; auch der Nobelpreis für Grass hat die Verkaufszahlen hochschnellen lassen; laut Saez beschränkt sich die Zahl der Leser, die Grass wirklich gelesen haben, in Spanien aber auf ein paar Tausend
--------------------------------
Telefoninterview mit dem dänischen Grass-Übersetzer Per Øhrgaard:
Frage: Gehen die Übersetzer, die Grass übersetzen wollen, auf den Verlag zu oder umgekehrt?
Øhrgaard: in seinem Fall ist der Verlag auf ihn zugegangen; bei Grass sei er nicht von Anfang an dabei gewesen; erst bei Erscheinen von "Der Butt" sei er gefragt worden, als begeisterter Grass-Leser habe er sofort zugestimmt
Frage: Hat Øhrgaard gefeiert, als er als Grass-Übersetzer für die nächsten Jahre bestimmt worden ist?
Øhrgaard: bejaht und freut sich auf weitere Werke; "Mein Jahrhundert" ist bereits auf Dänisch erschienen
Frage: Eindrücke vom ersten Kennenlernen mit Grass?
Øhrgaard: hat Grass zuvor bei Lesungen erlebt; Kennenlernen beim ersten Übersetzertreffen zu "Der Butt" in Frankfurt; nur sehr wenige Übersetzer seien nach wie vor bei den Treffen dabei; die Treffen seien sachlich, gemütlich und freundschaftlich
Frage: Schaut sich Øhrgaard die Übersetzungen seiner Vorgänger an? Passt er sich an? Hat er seinen eigenen Stil?
Øhrgaard: setzt seinen Stil durch; die früheren Übersetzungen habe er nicht gelesen; man müsse seinen eigenen Stil finden
Frage: Grass charakterisiert seine Übersetzer als bescheiden, nachdenklich und klug; fühlt sich Øhrgaard richtig beschrieben?
Øhrgaard: vielleicht nicht ganz so bescheiden; um Klugheit bemühe man sich, nachdenklich sei man in jedem Fall.
Frage: Wie funktioniert der Austausch bei den Übersetzertreffen?
Øhrgaard: in erster Linie über die Fragen an Grass; unter den Skandinaviern herrsche eine besondere "Brüderlichtkeit" aufgrund der Sprachnähe.
Frage: Ergeben sich Freundschaften oder langjährige Kontakte?
Øhrgaard: bestätigt; bei den Treffen sei es sehr freundschaftlich.
Frage: Fühlt man sich Grass nahe?
Øhrgaard: bestätigt; die Treffen seien sehr offen, Grass liefere viele Antworten; bei den Treffen werde Grass auch oft gebeten, etwas vorzulesen; man erhalte dann durch die Betonung auch wichtige Hinweise.
Frage: Øhrgaard hat Grass oft besucht in seinem Haus auf Møn - über was wird dort gesprochen?
Øhrgaard: über "Gott und die Welt", aber auch über die Arbeit; Grass arbeite dort auch und habe ihm aus "Mein Jahrhundert" beispielsweise vorgelesen.
Frage: Geht man dabei am Strand spazieren?
Øhrgaard: bestätigt; der Ort sei sehr schön und Grass fühle sich in Dänemark sehr wohl; das dänische Publikum frage ihn bei Lesungen sehr viel, beispielsweise auch zur Deutschen Einheit und Grass' Ansichten zu dieser.
Frage: Im Hause Grass gibt es offenbar oft Suppe - Form von Grassscher Gastfreundschaft?
Øhrgaard: Grass und seine Frau würden beide sehr viel kochen, vor allem Fisch; Grass beschreibe das Kochen oft in seinen Büchern.
-------------------------------
Lesung aus "Mein Jahrhundert", O-Ton Grass, Kapitel 1901 (WA 9, S. 10f)
ggrass_mods_00000542